LINIE 1 – Inhalt und Themen

LINIE 1 – ein Kaleidoskop weltstädtischer Figuren- und Typen.

LINIE 1 spielt im Jahr 1986, also vor dem Mauerfall, in der Szenerie der Berliner U-Bahn-Linie 1. Die Linie verlief damals im Westteil der Stadt zwischen den

Bahnhöfen Ruhleben und Schlesisches Tor (Kreuzberg) über den Bahnhof Zoo und durchquerte dabei verschiedene Bezirke mit gänzlich unterschiedlicher Sozialstruktur.

Ein junges Mädchen aus der (west)deutschen Provinz hat sich in einen Rock-Musiker aus Berlin verliebt. Sie flieht aus ihrem engen Zuhause und steigt – voller Illusionen und Sehnsucht nach einem eigenen, freien und glücklichen Leben – in den Zug nach Berlin. Um 6.14 Uhr kommt sie am Bahnhof Zoo an. Sie ist sehr jung, aufnahmefähig, noch nie in Berlin gewesen, kontaktfreudig und ein wenig naiv. Auf der Suche nach ihrem Märchenprinzen bleibt sie in der LINIE 1 hängen… und das war’s auch schon, was es zur Handlung zu sagen gibt.

Anders als viele andere Musicals hat die LINIE 1 keine konkrete Story. Oder vielleicht viele kleine – oder besser gesagt: berührende und zeitlose Themen unserer Gesellschaft in einer guten Mischung aus Heiterkeit, Komik, Ernst und Trauer, kombiniert mit tollen Songs, die ins Ohr gehen.

Das Stück spielt von Anfang bis Ende auf den Bahnhöfen und in den Zügen der LINIE 1 und zeichnet einen Tag im Leben einer Berliner U-Bahn-Linie nach. Es lebt von der Diversität der Figuren.

Vor den Augen des Mädchens entrollt sich für sie wie für das Publikum ein Kaleidoskop weltstädtischer Figuren- und Typen. Es sind typische Figuren Berlins, der einzigen Weltstadt, durch deren Mitte zwischen Ost und West eine Mauer verläuft, die die Stadt in zwei Hälften teilt, was eine größere Bewusstheit über die eigene Lage als anderswo erzwingt.

In der U-Bahn prallen unterschiedlichste Charaktere, Lebenswelten und Schicksale aufeinander. Das Mädchen wirkt oft als Fremdkörper, der durch das Stück führt und dabei die Sichtweise des Publikums einnimmt. Mit ihrer Naivität provoziert das Mädchen Kontakte, Reaktionen und Handlungen, die ohne sie vermutlich nie geschehen wären – sich vermutlich aber tagtäglich so oder ähnlich abspielen – bis heute.

Das Mädchen fragt und bringt dadurch die Figuren zum Sprechen, einzelne geraten miteinander in Kontakt oder reagieren aufeinander; es geschieht etwas unter ihnen, was sonst nicht geschehen wäre, die Naivität des Mädchens wirkt wie ein Katalysator. Das, was das Publikum auf diesem Wege über das „Personal einer Weltstadt“ erfährt, fügt sich zu einem einzigen großen Thema zusammen, das auch das Thema des Stücks ist: das Leben und Überleben unter den Bedingungen, die die Großstadt diktiert.

Träumen oder Leben, Realität oder Wünsche. Wie kann ich meine Wünsche in diesem System, dem ich mich scheinbar unterordnen muss, verwirklichen?

Das Mädchen kommt vom Lande, aus der Provinz, die gegenüber der Großstadt eine Welt der Identität darstellt. In der Provinz gibt es identifizierbare und überschaubare Produktion: Man ist dort Handwerker, Kellnerin in der „Krone“ oder Arbeiter in der Fabrik. Die Provinz ist ein gestriger Ort, zugleich jedoch auch ein Ort der Sicherheit, an dem der Einzelne seinen Wert hat, das Leben einen Sinn und die Arbeit eine Berufsbezeichnung ergibt.

Demgegenüber ist die Großstadt ein Ort der Nicht-Identität. Was der Job an Identitätsgefühl verweigert, wird in die Selbstinszenierung der eigenen Person verlegt. Kleidung, Aussehen, Haartracht sollen signalisieren, wer man ist und was man sein möchte. Die teilweise grotesken und exotischen Aufmachungen sind jedoch oft genug auch Notsignale aus einer bedrohlichen Isolation, der verzweifelte Versuch, in einer Welt der Kontaktlosigkeit dennoch Kontakt zu anderen zu finden. Die Groteske, der Spaß und die Gefahr abzustürzen, wohnen hier dicht beieinander.

LINIE 1 spielt ausschließlich auf den Bahnhöfen und den Zügen der U-Bahn LINIE 1. Die U-Bahn ist zugleich der reale Ort des weltstädtischen Figurenpersonals als auch Metapher für das Überleben in einer Welt der Nicht-Identität.

In der U-Bahn kommt man von oben nach unten, aus der Helligkeit des Tages in das Dämmerlicht des Untergrundes.

Soziales Oben und Unten, natürliches Licht und künstliches Licht,

Oberflächlichkeit und Echtheit spiegeln sich in diesem Kontrast.

In der Weltstadt als Ort der Nicht-Identität gewinnen der körperliche Ausdruck, das Aussehen, die Stimme an Bedeutung. Das Musical als künstlerische Form wird diesen Elementen der Show und der Selbstinszenierung besonders gerecht. Die Zuschauer sind aufgefordert, die Zeichen zu erkennen, sich selbst ins Gesicht zu sehen.

Inhalte größtenteils aus einem Text von Ulrike Hass, ehemalige Dramaturgin am GRIPS Theater Berlin, aus dem Originalprogrammheft zur “LINIE 1“

© 2022 by Verlag-am-Singersbach.de